Liebe Autoren von Mathematica Ludibunda,
euer Buch ist grossartig! Es macht mich stolz zu sagen, dass ich die ersten 14 Jahre
meines Lebens fast ausschliesslich damit verbrachte, es zu studieren.
Natürlich war es nicht meine Wahl, in einen Turm eingesperrt zu
werden, aber auf jeden Fall war es ein grosses Glück, dass ich dort oben
Mathematica Ludibunda fand und nicht etwa Knigges Buch über
richtiges Benehmen oder ein anderes langweiliges Buch.
Ich denke mir, ihr habt inzwischen alle meine Geschichte gehört,
mindestens auf die Art, wie die Gebrüder Grimm sie niederschrieben.
Ihre Version hat nämlich nicht allzuviel mit meinem wirklichen Leben zu
tun. Und euer tolles Buch hat viel dazu beigetragen, dass mein
Schicksal anders herauskam als es die Gebrüder Grimm beschrieben.
Den Anfang trafen sie ja noch recht. Es kam wirklich eine böse Hexe, die mich
entführte und in einen Turm sperrte, und sie kletterte auch
mein Haar rauf um mir Nahrung und Wasser zu bringen. Doch alles
weitere ist ziemlich verdreht.
Sie erzählten, ich hätte einen Prinz mein Haar raufklettern lassen,
hätte ihn gebeten, mir jedes Mal einen Seidenfaden zu bringen, damit
ich daraus eine Leiter hätte knüpfen können. Was für eine
Idee! Es ist doch jedem klar, dass Haar, das
von der Turmspitze bis zum Boden reicht, auch vom Boden bis zur
Turmspitze reicht. Also wenn ich auch wirklich einen Prinzen in
meinen Turm raufgezogen hätte, so hätte ich ihn sicher nicht um
Seidenfäden gebeten. Wer will schon seine Zeit damit
verschwenden, Seidenfäden zu einer Leiter zu knüpfen, wenn es
so viel Interessantes zu lernen gibt und eine viel einfachere
Fluchtmöglichkeit.
Ich muss gestehen, dass ich schockiert war, als ich die Grimmversion zum
erstenmal las. Ich schaute mich dann ein wenig in der Geschichte um und
fand bald heraus, warum meine Geschichte so entstellt worden war. Die
Geschichten von vielen anderen Frauen sind ähnlich ruiniert worden
wie die meine. Denkt doch nur zum Beispiel an Aschenbrödel, man erkennt
Cinderella auch kaum mehr darin. Aber die Gebrüder Grimm waren bei
weitem nicht die einzigen, die Frauengeschichten verdrehten. Und von
Frauen selber ist leider kaum mehr was erhalten.
Es ist zugleich traurig und faszinierend, die Geschichten von Frauen
zu lesen. Etwas vom ersten was mich interessierte, als ich die
Frauengeschichte etwas genauer anschaute, war, dass Frauen im
römischen Reich die Wahl hatten, so zu heiraten, dass sie Namen,
Rechte und Vermögen behalten konnten, oder sie konnten einen
Heiratsvertrag eingehen, bei dem die Macht über sie vom Vater auf
den Ehemann überging.
Um 400 n.Chr. wurde das Christentum zur wichtigsten Religion in Europa.
Die ersten Kloster für ledige und verwitwete Frauen wurden gegründet.
Das Klosterleben gab nun auch Frauen eine Möglichkeit,
sich weiterzubilden. Das konnten sich allerdings
nur vermögende Frauen leisten, da ein Eintrittsgeld bezahlt werden musste.
Mit der Zeit wurde neben dem
traditionellen Heilen das Predigen zum wichtigsten Beruf der Frauen. Viele
zogen herum um den neuen Glauben zu
verbreiten. Für eine kurze Zeit gab es sogar eine Päpstin. Leider weiss man nicht
mehr viel von ihr; ihre Spuren sind, wie die so vieler einflussreichen Frauen
früherer Zeiten, ausgewischt worden.
So bald sich das neue Glaubenssystem gefestigt hatte, wurden die
Rechte der Frauen wieder zurückgeschnitten. Sie durften als erstes einmal
nicht mehr reisen, schon bald auch nicht mehr predigen, nicht mehr Priester
heiraten, und schliesslich nicht einmal mehr den Altar berühren.
Im 12.Jh. bestimmte die Kirche, die nun ganz von Männern kontrolliert war,
dass es nur noch die eine Heiratsmöglichkeit geben solle, in der die Partner
nicht gleichberechtigt waren, sondern die Frau ganz zum Besitz ihres Mannes
wurde. Diese unglückliche Vereinbarung konnte sich fast bis in unsere Zeit
halten. So musste zum Beispiel die russische Mathematikerin Sophia Kowalewskaja
eine Scheinehe eingehen, um Russland verlassen und in
Europa studieren zu können. Russische Frauen hatten keinen eigenen Pass,
sondern waren im Pass ihres Vaters oder ihres Ehemannes eingetragen; sie
konnten also nicht ohne Bewilligung reisen. Sophia hatte übrigens ein sehr interessantes Leben,
das sich zu studieren lohnt.
Es verging noch viel Zeit, bis Frauen dieselben Rechte und dieselben Möglichkeiten Mathe
zu studieren hatten wie ihre männlichen Kollegen. Zwei Jahre nach der
französischen
Revolution von 1789 veröffentlichte Olympe de Gouge eine Neufassung der Menschenrechte.
Sie verlor für ihren Versuch,
die Menschenrechte - sie waren nur Männerrechte - auch auf Frauen auszudehnen ihren Kopf!
Gegen Ende des 19.Jh. gab es dann einige Länder, die Frauen zu Vorlesungen
zuliessen. Sie hatten dafür jedoch eine Spezialbewilligung einzuholen, für
welche nicht nur ihr fachliches Können, sondern auch ihr Benehmen entscheidend
war.
In Deutschland hatten Frauen ab 1908 freien Zutritt zu Universitäten. Ab 1918
waren sie endlich auch stimmberechtigt. In den USA kam das zwei Jahre später, die Schweizer
Frauen mussten bis 1972 darum kämpfen...
Nachdem ich all dies ein wenig studiert hatte - ich könnte natürlich noch
stundenlang weiter erzählen - kam ich zum Schluss, dass die Gebrüder Grimm
meine Geschichte wohl einfach den Ideen ihrer Zeit angepasst hatten.
Wie dem auch sei, ich bin wirklich sehr froh, dass ihr Mathematica LudibundCa
geschrieben habt und ich hoffe, es wird vielen Mädchen und Buben die Möglichkeit
geben, sich auf so interessante Art mit Mathematik zu beschäftigen. Falls ihr mal eine Neuausgabe
plant, würde ich euch vorschlagen, etwas von der Geschichte der Frauen
reinzunehmen. Es ist wichtig zu wissen, wie kurz die Zeit ist, seit auch
Frauen Mathematikerinnen sein können. Und ich denke mir, das würde prima in
euer tolles Buch reinpassen.
Es grüsst euch herzlich,
Rapunzel